Nicht alles, was bewertet werden soll, lässt sich in Tabellen oder Marktdaten abbilden. In der Praxis begegnen wir immer wieder Objekten, die so individuell sind, dass sie sich jeder Vergleichbarkeit entziehen. Sonderanfertigungen, Prototypen oder Einzelstücke, die speziell für einen Betrieb entwickelt wurden, sind für uns Sachverständige echte Herausforderungen – oder wie wir sie nennen: Bewertungseinhörner.

Wenn der Markt schweigt

Normalerweise stützen wir uns bei der Bewertung auf Marktvergleiche, Händlerpreise oder Auktionsdaten. Doch was passiert, wenn es für ein Objekt schlicht keine Vergleichswerte gibt? Wenn kein Händler Auskunft geben kann, kein Auktionshaus je etwas Vergleichbares verkauft hat und jeder aus der Branche nur sagt: „Puh, schwierig“? Dann beginnt die eigentliche Arbeit eines erfahrenen Gutachters.

Ein Beispiel aus unserer Praxis: Eine mobile WC-Anlage aus Edelstahl – nachhaltig konstruiert und mit einem geschlossenen Kreislaufsystem, bei dem der Urin durch ein pflanzenbasiertes Filtersystem wieder gereinigt wurde. Eine technische und ökologische Meisterleistung, die uns persönlich sehr beeindruckt hat und fachlich unglaublich spannend war. Aber: kein Vergleich, keine gebrauchten Anlagen dieser Art. Hinzu kam, dass das Unternehmen, welches die Anlage entwickelt und gebaut hatte, kurz vor der Schließung stand. Damit gab es keine Referenzanlage, keinen laufenden Betrieb und keine Möglichkeit für Wartung oder Ersatzteile. Der Insolvenzverwalter wollte den Verkehrswert und den Liquidationswert wissen – also den Preis unter normalen Marktbedingungen und jenen, der bei einer raschen Veräußerung erzielbar wäre. Doch dieser „gedachte Markt“ existierte in diesem Fall gar nicht, was die Ermittlung besonders anspruchsvoll machte. Dieses Projekt war für uns sehr lehrreich.

Verkehrswert vs. Liquidationswert – wenn der Unterschied entscheidend wird

Bei solchen Objekten wird schnell klar, wie wichtig es ist, den Bewertungszweck und die Bewertungsbasis zu definieren. Der Verkehrswert orientiert sich an einem funktionierenden Markt, doch wenn es keinen Markt gibt, verliert diese Methode ihre Grundlage. Dann kommt oft der Liquidationswert ins Spiel: Was wäre bei einer raschen Veräußerung, etwa im Insolvenzfall, realistisch erzielbar? In vielen Fällen bleibt dann nur der Schrottwert. Das mag ernüchternd klingen, ist aber die einzige objektiv nachvollziehbare Größe, wenn weder Nachfrage noch Vergleichsdaten vorhanden sind. Gerade bei Sonderanfertigungen oder Eigenentwicklungen ist der Nutzwert für Dritte oft sehr gering, selbst wenn das Objekt technisch hochwertig oder neuwertig ist.

Typische Bewertungseinhörner aus der Praxis

  • Maßgefertigte Thekenanlagen oder Bars mit integriertem Beleuchtungssystem, die perfekt in ein Raumdesign eingepasst wurden
  • Sondermaschinen, die für ein einziges Produkt umgebaut oder programmiert wurden
  • Individuelle Edelstahlkonstruktionen, Küchen oder Kühlzellen, die nicht dem Standardmaß entsprechen
  • Mobile oder experimentelle Anlagen mit Prototyp-Charakter
  • Objekte mit immateriellen Bestandteilen (z. B. Steuerungscodes oder spezielle Softwareanbindungen)

Solche Objekte zeigen: Je individueller etwas gebaut ist, desto schwieriger ist die spätere Verwertung. Oft steckt darin viel Kreativität, Ingenieurskunst und Handwerk aber kein Zweitmarkt.

Wie wir in solchen Fällen vorgehen

In der Praxis kombinieren wir verschiedene Ansätze: Erfahrungswerte aus ähnlichen Branchen oder Objektgruppen, Kalkulationsmodelle auf Basis der ursprünglichen Herstellungskosten, abzüglich technischer und wirtschaftlicher Entwertung, Vergleichswerte einzelner Komponenten, wenn das Objekt in Teilbereiche zerlegt werden kann, Abwertungsmethoden etwa nach geometrisch-degressiver oder linearer Abschreibung, wenn keine Marktpreise vorliegen, und in vielen Fällen Gespräche mit Fachbetrieben, Produzenten oder ehemaligen Lieferanten, um ein realistisches Gefühl für Marktchancen zu bekommen. Am Ende steht immer eine bewertbare Begründung, auch wenn die Zahlen mit größerer Unsicherheit behaftet sind als bei standardisierten Objekten. Wichtig ist, dass die Vorgehensweise transparent, logisch und nachvollziehbar bleibt, denn das ist letztlich die Aufgabe eines Sachverständigen.

Fazit

Bewertungseinhörner sind der Beweis, dass Bewerten weit mehr ist als Rechnen. Wenn keine Vergleichswerte, keine Märkte und keine Erfahrungswerte existieren, braucht es vor allem eines: Erfahrung, Marktgespür und technisches Verständnis. Ob Verkehrswert oder Liquidationswert – beide Größen haben ihre Berechtigung, solange klar ist, auf welcher Basis sie ermittelt wurden. Und manchmal ist das ehrlichste Ergebnis schlicht: Der Markt existiert (noch) nicht.

Fazit

Bewertungseinhörner sind der Beweis, dass Bewerten weit mehr ist als Rechnen. Wenn keine Vergleichswerte, keine Märkte und keine Erfahrungswerte existieren, braucht es vor allem eines: Erfahrung, Marktgespür und technisches Verständnis. Ob Verkehrswert oder Liquidationswert – beide Größen haben ihre Berechtigung, solange klar ist, auf welcher Basis sie ermittelt wurden. Und manchmal ist das ehrlichste Ergebnis schlicht: Der Markt existiert (noch) nicht.

Titelfoto von Annie Spratt auf Unsplash